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ICH-Kunst, DU-Kunst, WIR-Kunst

Denkobjekte von Joseph Beuys und Timm Ulrichs im Kunstmuseum Celle mit Sammlung Robert Simon

In den letzten Jahren machte das Kunstmuseum Celle mit Sammlung Robert Simon immer wieder von sich zu reden. Es ist das erste 24-Stunden-Kunstmuseum der Welt, das nach den offiziellen Öffnungszeiten des Hauses auf Lichtkunst umstellt, die eine Reihe international bekannter Künstler geschaffen hat und rings um das neue Gebäude an den Fassaden und den Außenräumen erlebbar wird.

von Jörg-Heiko Bruns

Celle. In der Publikation "Deutschland. Land der Ideen" erhielt das Kunstmuseum  unter den 365 Beispielen einen würdigen Platz und in dem Buch "Die 12 besten Bauten 2007" nimmt das Museum den 5. Platz ein. All dies ist dem Initiator, Inspirator , kreativen Motor und ehrenamtlichen Künstlerischen Leiter Robert Simon zu danken. Nun hat er aus seiner Sammlung Werke von Joseph Beuys und Timm Ulrichs zusammengestellt, die wiederum für Zulauf sorgen.

"Totalkünstler" und "Soziale Plastik"

Timm Ulrichs ist den Magdeburgern gut ekannt durch seine dem City Carré vorgelagerte Großplastik "Erdachse", die exakt den einmillionsten Teil des Poldurchmessers der Erde entspricht. Im Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen war er überdies verschiedentlich an Ausstellungen beteiligt.
Ulrichs, Jahrgang 1940, ließ sich schon 1968 als unikater "Totalkünstler" in das Museumsregister des Amtsgerichtes Hannover eintragen und ist damit nicht allzu weit entfernt von den Ideen des Kollegen Joseph Beuys (1921-1986), der die "Soziale Plastik" erfand und feststellte, dass jeder Mensch ein Künstler sei.

Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Die Ausstellung in Celle zeigt mit den Multiples (vervielfältigte Kunst) und die Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider "Kopfkünstler" und die Ursprünge ihrer Kunst, die auch in den Readymades eines Marcel Duchamp zu suchen sind. Der große Inspirator der modernen Kunst hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts beliebige, serienmäßig hergestellte Gegenstände zum Kunstwerk erhoben wie den berühmten Flaschenständer oder das allseits bekannte Urinal aus Herrentoiletten.
Mit der "Sozialen Plastik" geht Beuys darüber hinaus, indem er die musealen Ansätze politisch motiviert in die Öffentlichkeit, unter das Volk, trägt. Beuys Bestrebungen laufen auf die Reformierung der Gesellschaft hinaus ("So kann Parteidiktatur überwunden werden", beidseitig bedruckte Tragetasche, 1971), während Timm Ulrichs eher durch die Konzentrierung auf die eigene Person Politik beeinflussen möchte ("Timm Ulrichs' Kopfsteinpflaster", 1978/80, eine Straßendecke mit Schädeldecken aus Betonabgüssen des Künstlers).
Beide Künstler arbeiten extrovertiert mit dem Wort, aus dem oft auch ironisches Wortspiel wird. Die Gedankengebäude der "Denk-Objekte" sind komplex und vielschichtig und strahlen in verschiedene Richtungen aus, um dann zielgenau den wesentlichen Punkt zu treffen. Beuys nutzt 1972 zum Beispiel ein Flugblatt des Bundes für Umweltschutz Tübingen für  seine Zwecke, indem er es mit dem Stempel der Organisation für direkte Demokratie versieht, monogrammiert und den handschriftlichen Satz "lieber heute aktiv, als morgen radioaktiv!" hinzufügt und lässt es als Multiples drucken und verbreiten. Dass dieses Kunstwerkt Wirkung zeigte, beweist, dass sich dieser Satz bald volksliedhaft verbreitete, ohne dass sein Schöpfer in jedem Fall bekannt war.
Timm Ulrichs stellte im gleichen Jahr mit ganzem Körpereinsatz seine "Olympische Marathon-Tretmühle" auf der "Spielstraße" der XX. Olympischen Spiele in München der Öffentlichkeit vor: "Ich absolviere täglich einen Marathonlauf - 'auf der Stelle tretend'.", kommentierte er messerscharf diese Spielart von Aktionskunst und führt damit die Medaillenjagd ad absurdum. Ein Film und ein Dokumentationskasten sind bleibendes künstlerisches Ergebnis.

Gesichtsprofil, Holzkiste, Postkarte

Die Ausstellung in Celle vereint 130 Multiples und Unikate aus der Sammlung Robert Simon. Das Spannungsfeld der unterschiedlichen und doch ähnlichen Positionen beider Künstler entfaltet sich für den Besucher in recht unkomplizierter Weise. Ein Hinüber- und Zurückwechseln zwischen den Raumachsen für Beuys und Ulrichs erhöht das hohe Vergnügen, Kunst zu erleben, das der Rezensent nicht wörtlicher versprechen kann.
Hintersinniger Witz ist nicht ausgeschlossen, so zum Beispiel in Timm Ulrichs " Mit scharfem Profil" aus drei Edelstahl-Sägeblättern, davon das mittlere mit lasergeschnittenem Gesichtsprofil des Künstlers, das verkündet "Ich bin all hier". So etwa kann auch die Postkarte "Demokratie ist lustig" von Beuys gelesen werden: Der Künstler, fristlos gekündigt, kommt lächelnd aus dem Düsseldorfer Akademiegebäude und ist umgeben von einer Vielzahl Polizisten... Demokratie ist wirklich lustig! Beuys Anschrift hieß fortan "Staatlich ruinierte Kunstakademie". Wohl keines der oft provozierenden Kunstwerke verfehlt so seine Wirkung, die von Unbehagen bis zur Zustimmung reicht. Das funktioniert natürlich auch ohne die herrliche Holzkiste von Beuys mit dem Titel "Intuition".
Zur Vertiefung hat der Kurator der Ausstellung, der Kunsthistoriker Michael Wolfson, einen sehr gut recherchierten und sorgfältig gestalteten Katalog vorgelegt, der noch einmal einen ausführlichen Ausflug in die neuere Kunstgeschichte ermöglicht.
Dem Celler Kunstmuseum, dem ersten 24-Stunden-Museum der Welt, ist zu wünschen, dass die guten Ideen nie zur Mangelware werden, getreu der zu dieser Ausstellung ausgegebenen Devisen: ICH-(bin/mag)Kunst, DU-(bist/magst/brauchst)Kunst, WIR (alle sind, lieben und brauchen - dringend)Kunst und "Wer nicht denken will, fliegt 'raus!"